Ich gehe noch zur Schule, daraus mache ich kein Hehl. Gott sei Dank stehe ich seit längerem auf der richtigen Seite: auf der Seite der Lehrer. Das bringt viele Vorteile mit sich, abgesehen von der Bezahlung. Ich kann nicht mehr hängen bleiben und weiß, was in den Klassenarbeiten dran kommt. Aber es bringt auch etliche Nachteile mit sich, zum Beispiel den immerwährenden Kampf gegen den – wie Biologen sich ausdrücken würden – natürlichen Feind: den Schüler.
Ich bin sozusagen Teil einer generationsübergreifenden Auseinandersetzung geworden. Ich spiele ein Spiel, teilweise, weil ich davon überzeugt bin, teilweise, weil ich muss. Ich spiele die vielen Rollen, manchmal verärgert, meistens belustigt. Eine der vielen Rollen heißt: Dorfsheriff. Ich bin nämlich auch für die Sauberkeit zuständig, jedenfalls ist das meine Überzeugung.
Erste Stunde, ich schließe den Klassenraum auf. Die Stühle stehen in Reih und Glied, die Tafel ist sauber, die diversen Ökomülleimer sind leer.
Die Schüler quellen rein und beschweren sich lautstark „Es stinkt.“ Ich gebe ihnen Recht. Schule stinkt eben nun mal. Nach Schule. Weiß der Himmel, was das für ein Geruch ist. Eine Mischung aus Bohnerwachs, Angstschweiß und dem vergammelten Inhalt von Joghurtbechern.
Die Fenster werden aufgerissen.
Vier oder fünf nörgeln: „Es zieht!!“ Außerdem ist es zu laut von draußen. Die Fenster werden geschlossen. Es stinkt wieder.
Zweite Stunde. Mittelstufenklasse.
Erstes Butterbrotpapier ziert den Fußboden, die Tafel ist vollgekritzelt. Mit Blick darauf fragt man: „Wer hat Ordnungsdienst?“
„Das waren wir nicht!!“
Völlig unerheblich, aber Schüler achten streng auf das Verursacherprinzip. Ich bestimme einen Freiwilligen, der die Tafel abwischen muss. Er murrt. Mit Drohungen mache ich ihn gefügig. Die Atmosphäre wird langsam vergiftet. Ich beschließe, die Hausaufgaben zu verdoppeln.
Große Pause, ich habe Aufsicht. Es nieselt draußen. Kaum merklich, aber es nieselt. Ein Schülerpulk kommt auf mich zu.
„Draußen regnet es in Strömen.“
Ich: „Es regnet nicht.“
Beides ist gelogen. Also versuche ich meine Position durch eine formaljuristische Argumentation zu untermauern:
„Das rote Licht brennt nicht, also ist es auch keine Regenpause.“
Ich schicke sie auf den Hof, obwohl ich weiß, dass es als vorsätzliche Körperverletzung ausgelegt werden kann, Schüler in diese Krater- und Pfützenlandschaft zu jagen. Zur Strafe besudeln eintausend Dreckschuhe am Ende der Pause die Flure und Klassen-zimmer.
Dritte Stunde. Der Klassenraum, den ich betrete, ist ungelüftet. Schließlich regne es draußen in Strömen und es sei zu kalt, die Fenster zu öffnen, behaupten die Schüler mit ihren abgestumpften Geruchssinnen. Auf dem Boden liegen Apfelsinenschalen. In langen Dienstjahren habe ich aufgegeben, das Auftauchen von Apfelsinenschalen zu klären.
Der gelbe Mülleimer, für den die Schüler zuständig sind, quillt über. „Bring mal bitte den Müll raus“, beauftrage ich den Nächst-sitzenden mit sanfter Stimme.
„Ich habe keinen Ordnungsdienst.“
Ich beharre darauf:
“Mach es trotzdem.“
Er macht`s mit finsterer Miene und ich habe mir einen neuen verlässlichen Feind geschaffen.
Vierte Stunde. Oberstufe. Im Raum fehlt der Overheadprojektor, Kreide fehlt, an der Tafel liegt ein ekeliger Schwamm. Mein Adrenalinspiegel steigt.
Die Tafel ist von einem Pausenkünstler vollgekritzelt worden.
„Wer wischt die Tafel ab?“
Schweigen.
„Wisch Du dann bitte mal die Tafel ab.“
„Ich war beim letzten Mal dran.“
„Dann du!“ „Wieso ich?“
Fünfte Stunde. Sport. Eine Dunstwolke von Achselhöhlenschweiß und Fußschweiß hängt in der Turnhalle. Dichte Schwaden von Staubpartikeln wabern im Gegenlicht durch den Raum. Ich lasse die Schüler zunächst zehn Runden laufen, damit über ihre Lungen ein Reinigungsprozess für die Luft einsetzt.
Sechste Stunde. Wieder im Hauptgebäude. Die Schule bietet inzwischen ein Bild des Grauens. So in etwa muss man sich die Schlachtfelder im Dreißigjährigen Krieg vorstellen. Die Schüler verlassen nach dem Klingeln behände und ohne einen Hauch von Schuldgefühlen die Müllberge.
Aber am anderen Tag erwartet uns ein Wunder. Die Schule ist wieder sauber, fast wohnlich. Jedenfalls kurzfristig. Bis zur ersten Stunde.
Fundsache: „Am steigenden Abfall sieht man den steigenden Abfall unseres Bildungsniveaus.“

Aus: Jörg Hellmann “Kleine Geschichten über Politik” Buch ISBN: 978-3-9810380-2-6,
S.65-68