Die Empörungsbewegung

Wohltuend ist’ für jedermann
Sofern er sich empören kann !

Die Empörer-Elite

Mein Freund Paul gehört zu den Elite-Empörern der Nation. Aus kleinen, bescheidenen Verhältnissen hat er sich hochgearbeitet bis in den inneren Zirkel dieser Organisation.
„Angefangen habe ich“, sagt er vertraulich, „mit Zwischenrufen auf irgendwelchen Veranstaltungen. Meine Standardformeln waren: ‚Das kann doch wohl nicht wahr sein!’ und ‚Unglaublich’. Sofort spürte ich die Anerkennung der Zuhörerschaft wegen meines Mutes und wegen meiner moralischen Integrität. Dann habe ich in der Volkshochschule meinen ersten Entrüstungsschein gemacht.“
Er lehnte sich stolz zurück.
„Was habt ihr denn in der hohen Schule des niederen Volkes so gemacht?“
„Na ja, die Entrüstung brauchte ich nicht zu lernen, ich bin ein Naturtalent. Aber es gibt zusätzliche Regeln, die man beherrschen muss, z. B.: ‚Lasse der Entrüstung nie Taten folgen.’
„Wieso das?“
„Wieso das! Bei Taten gibt es immer irgendwelche, die damit nicht einverstanden sind, durchweg Mitglieder unserer Bewegung. Durch entschlossenes Handeln bringst du nur die eigenen Leute gegen dich auf.“
Das leuchtete mir ein.
„Gibt es einen Unterschied zwischen der ‚Entrüstervereinigung’ und der ‚Allianz der Dauerbestürzten?“, wollte ich wissen.
„Eigentlich nicht“, sagte Paul, „die einen stehen eher der Kirche nahe, die anderen der Gewerkschaft. Seit kurzem haben sich beide zu einem Dachverband zusammengeschlossen: ‚Die nachhaltige Empörungsbewegung’.“
Ich war beeindruckt. Gleichwohl traute ich mich zu fragen, warum man denn dieses Nullwort „nachhaltig“ hinzugefügt habe.
„Na, ganz einfach“, erklärte mir mein Gegenüber von oben herab, „damit unser Protest nachhallt!“
Paul kam in Fahrt: „In unserem Volkshochschulkurs haben wir auch ständig an unserer Ausdrucksweise gefeilt. Bei Zwischenrufen klage ich jetzt lauthals über den Redner: ’Ich will nicht glauben, dass man so etwas sagen darf.’ Du solltest mal sehen, wie die zusammenzucken. Oder noch besser: ‚Ich bin entsetzt und sprachlos, dass Sie tatsächlich ernsthaft zu glauben scheinen, was Sie da die ganze Zeit reden!` Eine vernichtendere Niederlage kann man einem Gegenüber gar nicht zufügen!“
„Aber solche Bemerkungen erschlagen doch jede Argumentation!“ schob ich verschämt ein.
Er sah mich mitleidig an.
„Als ob es darauf ankäme“, sagte er spöttisch, „Gefühle wollen die Leute, ob echt oder geheuchelt, ist doch völlig egal.“
„Wo bleibt da die sachliche Auseinandersetzung? Der Respekt vor der Redlichkeit des Andersdenkenden?“, versuchte ich einzuwenden.
„In welchem Jahrhundert lebst du eigentlich?“, fuhr Paule mich an und holte zu einer großen historischen Parallele aus:
„Das 20. Jahrhundert war ein Jahrhundert der großen Massenbewegungen. Krieg, Terror, Einschüchterung, Brutalität. Die roten Sozis und die braunen Sozis haben auf dieser Klaviatur gespielt und verspielt. Das, was wir da jetzt bei Wahlen oder bei Demos erleben, sind Nachhutgefechte von ein paar Verstörten. Nein, die neue Zeit gehört der Empörungsbewegung. Große Gefühle sind gefragt: Entrüstung – das ist die neue Zeit. Sagt jemand ein falsches Wort, schon sind wir alle bestürzt. Wir brauchen keine Stasi mehr und keine Gestapo, um jemanden mundtot zu machen!“
Ich war beeindruckt von seiner historischen Weltsicht. „Seid ihr denn schon viele in eurer Empörungsbewegung?“
„Viele? Wir sind nach dem schleppenden Verkümmern der Gewerkschaften der einzig verbliebene gesellschaftliche Machtfaktor links von der Mitte. Du musst mal die Zeitungen genauer lesen, dann siehst du, wie groß unser Anhang ist. Der SPIEGEL! Die haben den letzten Schuss gepflegt überhört, der die 68-er Revolution beendet hat. Empörte aller Länder, vereinigt Euch ! Die ZEIT! Dauerempörte gegen die Empörten von Rechts wegen. Schwimmen immer schön in der Mitte unseres großen Stromes!“
„Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom!“
„Ebend!“
Paule sagte gerne „ebend“, um zu unterstreichen, dass er aus Hannover stammte.
Und er prahlte weiter mit seinem Werdegang: „Übrigens, das war der nächste Schritt auf meiner Karriereleiter: Ich schrieb Leserbrie-fe. Sowie irgendwo eine Blattlaus verendete, schlug ich Alarm. Tote Tiere zu beklagen kommt immer gut.“
„Hat eure Empörungsbewegung denn schon die Spitzen der Gesellschaft erreicht?“
Er sah mich an, als käme ich von einem anderen Stern. „Erreicht? Die höchsten Ämter sind in unserer Hand. Unser Bundespräsident ist Ehrenvorsitzender auf Lebenszeit.“
„Das sieht ihm ähnlich!“ bemerkte ich trocken. „Aber mit Maschmeyer kuscheln !!“
„CDU/CSU?“
„Fast alle.“
„Ich denke, ihr seid links von der Mitte?!“
„Ebend!!“
„Die Grünen?“
„Na hör mal! Geschlossen! Die meisten sind Gründungsmitglieder unserer Bewegung! Claudia Roth gilt als Chefideologin.“
„Die Linke?“
„Bestimmen bei uns die Vorstandsarbeit.“„Habt Ihr auch ein Emblem?“
„Natürlich! Die gespaltene Zunge hinter vorgehaltener Hand.“
Er lehnte sich erneut zurück.
„Karriere kann man nur über uns machen. Tatkraft, Augenmaß, gesunder Menschenverstand – alles Schnee von gestern. Nur noch Verbalathleten haben eine Chance. Nimm Robert Habeck. Hat sich aus kleinen Protestverhältnissen. Jetzt ist er Bestürzungsexperte des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Er ist der Trendsetter der politischen Betroffenheitsmoral. Steht kurz vor der Heiligsprechung.“
„Du hast recht“, gestand ich Paule zu.
„Willst du nicht auch endlich beitreten?“ Er sah mich an.
„Lass man, Paule, mit Bestürzung aus Kalkül will ich nichts zu tun haben. Das bin ich meiner intellektuellen Rechtschaffenheit schuldig“, sagte ich empört.
Paule grinste: „Du bist empört? Na, also, du bist schon auf dem richtigen Weg. Dann musst du nur noch lernen, Aufrichtigkeit zu heucheln! Das lernt man schnell, wenn man nach oben will….“
“Wohltuend ist für jedermann, sofern er sich entrüsten kann”
(Unbekanntes Zitat)
Aus:

Jörg Hellmann “Kleine Geschichten über Politik” S. 6-10

Als Buch ISBN: 978-3-9810380-2-6
ISBN: 978-3-9814431-4-1 (e-book, pdf )
ISBN: 978-3-9810380-7-1(e-book, epub)

Überarbeitete Fassung des (lieferbaren!) Buches „Kleine Geschichten über Politik” 

Von Dr.Jörg Hellmann

Ex-Pauker, Ex-Fußballer, Ex-Tennisspieler, Golfspieler. Studierender des täglichen Lebens und der sich darin abstrampelnden Menschen. Darüber schreibe ich.